Begräbnisstätte und Erinnerungsort auf dem Städtischen Friedhof Altglienicke
Den Opfern ihren Namen geben - Erinnerungsort Friedhof Altglienicke
Der neu gestaltete Begräbnis- und Erinnerungsort auf dem Friedhof in Altglienicke wurde am 27.09.2021 u.a. durch Bezirksbürgermeister Oliver Igel und Staatssekretär Stefan Tidow feierlich eingeweiht. Zu einem anschließenden Festakt am Abend hatte ebenfalls Bezirksbürgermeister Oliver Igel geladen, an dem u.a. der Initiator des Erinnerungsortes Altglienicke, Klaus Leutner, sowie Andreas Nachama, Rabbiner und Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland, Heiner Koch, Erzbischof des Erzbistums Berlin, und Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), teilnahmen. Die Predigt hielt Bischof Christian Stäblein.
Gedenken und Erinnern heute: Die Zukunft der Grabanlage U2
Das Gräberfeld U2 des Friedhofs in Altglienicke ist eine von 171 Begräbnisplätzen für Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in Berlin mit dauernden Ruherecht. Obwohl diese Begräbnisstätten für die Öffentlichkeit zugänglich sind, werden nur wenige wahrgenommen, rücken lediglich im Rahmen ritueller Gedenkfeiern für einen Moment ins Bewusstsein. Die Mehrheit der Kriegstoten bleibt unsichtbar, unabhängig von Herkunft, Alter und Schicksal.
Auf dem Friedhof Altglienicke hat Geschichte ihren Spuren hinterlassen. 1.372 Opfer nationalsozialistischer Gewalt haben hier ihre letzte Ruhestätte. 1.372 Seelen, deren Leben gewaltsam genommen wurde, sind hier ohne Nennung ihres Namens anonym in Urnen bestattet. Bei den Toten handelt es sich überwiegend um Opfer aus verschiedenen Konzentrationslagern und Tötungsanstalten (Patientenmorde im Rahmen des sogenannten „Euthanasie“-Programms). Näheres dazu konnten Sie bereits in den Berichten Klaus Leutners im Gemeindebrief August & September 2019 und 2021 lesen. Herrn Leutner haben wir es zu verdanken, dass dieser Ort gesehen wird und die Geschichten der Toten gehört werden. Erst durch sein Engagement kam der Stein ins Rollen, der zur Neugestaltung der Begräbnisstätte und zur Entwicklung eines Erinnerungsortes führte.
Vielleicht sind Sie selbst beteiligt bei der Gestaltung des Ortes. Vielleicht sind Sie dem Ruf der Künstlerin Katharina Struber und des Architekten Klaus Gruber gefolgt. „struber_gruber“ konnten bei der Ausschreibung des Senats mit ihrem Konzept der Neugestaltung überzeugen. Vielleicht sind Sie Pate und Patin eines Verstorbenen geworden und haben mit Ihrem persönlichen Schriftzug des Namens und der Lebensdaten des Opfers, ihr und ihm ein Stück Identität wiedergegeben.
Den Opfern ihren Namen geben
Wie kann das Interesse heutiger Generationen für diese fast vergessenen Orte geweckt werden? Wie verdeutlicht man Schülern und Schülerinnen, für die die Frage „Was hat das Ganze mit mir zu tun“ nicht eine rein rhetorische ist, die Verbindung zwischen heute und der Vergangenheit? Wie kann man Zugänge für junge Menschen schaffen, für die der Besuch einer Kriegsgräberstätte der erste in ihrem Leben, gar der erste Besuch eines Friedhofs und damit auch das erste Mal die Konfrontation mit dem Thema Tod sein könnte?
Dank des Herzstückes der Neugestaltung, die grünen Glaswände, in welchen die Namen und Lebensdaten der dort begrabenen Opfer stehen, können sich die Besucher auf Spurensuche begeben. Jeder einzelne Name erzählt, hinter jedem einzelnen Namen verbirgt sich eine Geschichte. Insbesondere für junge Menschen ist es interessant die Spuren der Geschichte vor ihrer Haustür und nicht nur im Geschichtsbuch zu entdecken, und ihre eigentlich vertraute Umgebung neu kennenzulernen. Auf ihrer Suche entdecken die Schüler und Schülerinnen, dass der Großteil der hier liegenden Menschen in einem Zeitraum von über einem Jahr ums Leben gekommen ist. Sie sehen, dass Olga Miksens nicht mal sieben Jahre alt wurde. Sie rechnen und bemerken, dass Luise Tesch in ihrem Alter, mit 16 Jahren ermordet wurde. Sie lesen nicht Deutsch klingende Namen: Ein Drittel der Opfer kam aus Polen, auch Menschen aus der Slowakei, Österreich, Lettland, Frankreich und der Niederlande sind unter den Opfern.
Durch das Kennenlernen der unterschiedlichen Biografien der Toten setzen sich die jungen Menschen mit Ursachen und Folgen von Krieg und Gewaltherrschaft auseinander und erfahren, wie ganz unterschiedliche Menschen im Krieg zu Tode kamen, wie menschenverachtend der Nationalsozialismus war und sie spüren das Ausmaß von Hass und Ausgrenzung in Diktaturen.
„Erinnerung entsteht gemeinsam zwischen Menschen, die heute Leben“
Schüler und Schülerinnen des Archenhold-Gymnasiums in Treptow und Schüler und Schülerinnen des Samorządowego LiceumOgólnokształcącego aus Zgierz, Polen, werden gemeinsam Ende September der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft hier in Altglienicke gedenken. Die Berliner Schulgruppe hatte bereits am 27. Januar 2020 mit ihrer persönlichen Handschrift Namen und Lebensdaten von Verstorbenen individuell festgehalten. Mindestens vier Opfer waren aus Zgierz, mit ihren Geschichten hat sich die Schulgruppe aus Zgierz beschäftigt.
In den gemeinsamen fünf Tagen erhalten die jungen Menschen die Chance, Berlin und seine Geschichte aus einem besonderen Blickwinkel kennenzulernen. Oftmals werden dabei persönliche Geschichten und Ereignisse ausgetauscht, welche die Annäherung beider Gruppen stärken und das Bewusstsein der Schüler und Schülerinnen zu den verschiedenen nationalen und familiären Schicksalen sensibilisieren und fördern.
Eines der wichtigen Themen dieses Projektes ist die Arbeit mit internationalen Biografien der Opfer des Nationalsozialismus. Roter Faden der Begegnung ist der Austausch über die nationalen Erinnerungskulturen, das Gedenken und die individuelle Wahrnehmung. Zentrale Fragen sind, wie in Polen und in Deutschland an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft erinnert wird und was die Gedenkorte und Gedenkfeiern für die Schüler und Schülerinnen aussagen, was sie ihnen heute bedeuten und ob der Zweite Weltkrieg für sie noch prägend ist.
Das Zusammenwachsen der Gruppe durch die vielen lockeren gemeinsamen Aktivitäten, wie Kochen, Kennlernspiele, Sprachanimation, Hospitieren an der Berliner Schule oder gemeinsamer Freizeit in der Stadt, legen den Grundstock über den eigenen Tellerrand zu schauen und transkulturelle Erfahrungen zu sammeln, hoffentlich ein wenig wieder Leben lernen in Zeiten der Pandemie, kulturelle Unterschiede und Eigenheiten kennen- und schätzen zu lernen.
Für die Zukunft gilt, den Ort mit Leben zu füllen und nicht zu vergessen .
Ein Krieg hat viele Gesichter – Kriegsgräberstätten sind Zeugen der Geschichte, die heutigen und zukünftigen Generationen von den Weltkriegen und der nationalsozialistischen Zeit berichten. Sie geben zugleich Zeugnis von Hass und Gewaltherrschaft, aber auch von Versöhnung. Sie sind authentische Orte, an denen man sich kritisch mit Fragen über Schuld und Aussöhnung, Täterschaft und Verantwortung auseinandersetzen kann und die Chance hat, sich dem Unbehagen an der Geschichte zu stellen. Der Friedhof Altglienicke ist ein Ort, an dem man mit jungen Menschen offen diskutieren und ihnen die Möglichkeit bieten kann, ihre Positionen und Perspektiven zu Krieg und Frieden, zu Erinnerung und Gedenken zu artikulieren. Man muss Geschichte nicht lieben. Jedoch sollte der jungen Generation bewusst sein, dass sie diejenige ist, welche die Geschichte an die nächste Generation vermitteln wird, die dafür sorgen kann oder nicht, dass nicht vergessen wird. Was bleibt von der Geschichte, wenn sie nicht weitergetragen wird?
Der Auschwitz-Überlebende Primo Levi sagte: „Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen.“ Schuldig an der Vergangenheit sind wir nicht mehr, aber wir sind verantwortlich dafür, was jetzt und in der Zukunft passiert, und ob Demokratie und Menschenrechte weiterhin als Grundlage unserer Gesellschaft verstanden werden.
Anne-Susann Schanner
Bildungsreferentin beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V., LV Berlin